Ein wesentliches Merkmal der Romantik ist die Verbindung von Musik und Poesie. So liegt es nahe, dass das Klavierlied — der Begriff Kunstlied ist gleichbedeutend — eine für die Romantik typische Musikgattung darstellt. Am Beispiel des Klavierliedes mit dem Titel „Einsamkeit“ aus dem Liederzyklus „Winterreise“, einer Folge mehrerer inhaltlich aufeinander bezogener Lieder von Franz Schubert, wird aufgezeigt, wie wir ein solches Klavierlied verstehen können. Die Textgrundlage macht es einfacher, den Inhalt auch der Musik besser zu verstehen. Wir gehen von den einzelnen Gestaltungsmitteln der Musik aus und fragen uns zunächst, wie mit diesen der Textinhalt verdeutlicht wird. Unsere grundlegenden Leitfragen sind:

Welche Form hat der Text, wieviele Strophen zu wievielen Versen, welche Reimfolge und Metrik?

Welchen Inhalt hat der Text, welches sind die dargestellten Erfahrungen, Erlebnisse, Gedankengänge, Emotionen? Ist die Stimmung einheitlich oder gibt es Stimmungsumschwünge? Gibt es Bilder oder Begriffe von besonderer Aussagekraft und Bedeutung?

Wo finden sich Beziehungen zwischen Text und Musik? Gibt es eine formale Entsprechung oder Abweichung? Erfolgt die Gestaltung als Strophenlied, variiertes Strophenlied oder wird das Lied durchkomponiert? Wie wird die Gliederung des Textes musikalisch verdeutlicht? Welche Entsprechung besteht zwischen Melodik und den Strophen und Versen? Wie werden Bilder und Begriffe herausgehoben? Entspricht die Rhythmik der Rhythmik der Strophen und Verse? Gibt es Abweichungen der Metrik von der Metrik des Textes? Welche Bedeutung haben Takt, Taktwechsel, Tempo, Tempowechsel, Dynamik, dynamische Veränderungen, Besonderheiten der Artikulation und der Phrasierung oder Tonartverlauf in Bezug zum Inhalt? Welche Rolle spielt die Harmonik als Aussageträger? Wie sind die Klavierbegleitung und die Klangfarbe gestaltet? Welche Rolle kommt dem Vor-, Zwischen- und Nachspiel zu?

Die Textvorlage (Wilhelm Müller)

Wie eine trübe Wolke
Durch heitre Lüfte geht,
wenn in der Tanne Wipfel
ein mattes Lüftchen weht.
 
So zieh ich meine Straße
Dahin mit trägem Fuß,
durch helles, frohes Leben
einsam und ohne Gruß.
 
Ach, daß die Luft so ruhig!
Ach, daß die Welt so licht!
Als noch die Stürme tobten,
war ich so elend nicht.

 

Das Gedicht besteht aus 3 Strophen zu je 4 Versen mit dem Reimschema abcb, die Metrik ist regelmäßig kurz-lang.

Der emotionale Inhalt der 1. Strophe ist der Kontrast zwischen Trübsinn gegenüber Heiterkeit, in der 2. Strophe wird der Trägheit der Frohsinn gegenübergestellt, in der 3. Strophe erfolgt ein Ausbruch der Gefühle Frust, Aufbäumen, Trotz, der wieder mit dem Elend endet. Somit ergibt sich die formale Anlage A, A1, B. Die beiden A-Teile sind Gegenüberstellung unterschiedlicher Emotionen, der B-Teil stellt einen Gefühlsausbruch dar.

Die musikalische Gestaltung (Franz Schubert)

Form:

Der Text ist durchkomponiert. Die Musik lehnt sich an die Textvorlage an, die 3. Strophe wird jedoch wiederholt. Schubert stellt gleichwertig Trübsinn und Trägheit gegenüber Trotz und Aufbäumen, sodass sich eigentlich eine Zweiteiligkeit ergibt. Die musikalische Form ist somit A, A1, B, B1 (8+8+11+11 Takte). Der Textteil „so elend“ wird zur Ausdruckssteigerung wiederholt.

Gliederung:

Auch durch die Gliederung der großformalen Anlage in die zunächst langgliedrigen Phrasen a, a, a1, a1 (4+4+4+4 Takte), dann kurzgliedrigen Phrasen b, c, d, b1, c1, d1 (2+2+3+2+2+2+2+3+2+2 Takte) werden die Emotionen Trübsinn gegenüber innerer Unruhe und Trotz herausgearbeitet.

Melodie:

In den A-Teilen entspricht das Auf-und-Ab der Melodie dem Auf-und-Ab der Gefühle Trübsinn und Frohsinn. Die etwas größeren Intervallsprünge und die etwas höhere Tonlage im A1-Teil steigern diese Emotionen. Im B-Teil bleibt die Melodie zunächst auf einem Ton (Ruhe), dann kommt ein Seufzermotiv (abfallende Sekunde = seufzen), nun deutet die Melodie in einem Bogen die sich auf- und abbauenden Emotionen an, schließlich fällt die Melodie ab (Elend). Insgesamt ist die Melodie kurzgliedrig, phrasenhaft, was die innere Zerrissenheit andeutet. Die tiefere Tonlage im B1-Teil drückt das Schwächer-Werden aus, wobei der Spitzenton in Takt 45 einen letzten Aufschrei mit letzter Kraft darstellt.

Vertonung einzelner Worte

Der Text „träger Fuß“ und „ohne Gruß“ wird durch ein Unisono (Gesang und Klavier spielen dieselben Töne) hervorgehoben, die Melodie bei „Wolke“ geht nach oben, das Wort „Elend“ wird durch einen Spitzenton betont.

Rhythmus der Singstimme

Im A-Teil wird ein regelmäßiges, 4-taktiges, durch Pausen gegliedertes Rhythmusmodell mit der Notenwertfolge kurz-lang verwendet. Es deutet die trübsinnige Grundstimmung an. Im A1-Teil entspricht eine leichte Bewegungssteigerung einer leichten Emotion. Der B- und B1-Teil ist unregelmäßig, unterschiedlich, die Verse sind mit Pausen durchsetzt. Dies verdeutlicht die innerlich zerrissene Gefühlslage.

Metrik

In den A-Teilen ist die Metrik regelmäßig, in den B-Teilen unregelmäßig. So wird zunächst das trübsinnige Wandern, dann die innere Unruhe gestaltet.

Takt

Im Zwei-Viertel-Takt wird in den A-Teilen das trübsinnige, träge Dahintrotten deutlich. In den B-Teilen scheint das Taktgefüge aufgebrochen, was für den Ausbruch der Gefühle steht.

Tempo

Das langsame Tempo steht für das kraftlose, wenig bewegte Dahintrotten und die emotionale Leere in den A-Teilen. Wiederum beenden in den B-Teilen die innere Unruhe und das Aufwallen der Gefühle die gleichförmige Bewegung.

Dynamik

In den A-Teilen steht das Pianissimo (pp) für das Kraftlose und Trübe. Die schweren Schritte werden durch Akzente hervorgehoben, ebenso der Schmerz durch ein Fortepiano (fp). In den B-Teilen unterstreichen die starken dynamischen Wechsel (f/p, fz) und die Crescendi und Decrescendi die starken emotionalen Regungen, die Unruhe und das Aufbäumen. Am Schluss geht es zu Ende mit einem Diminuendo (leiser werden) und einem Pianissimo (sehr leise).

Tonart

Das Lied beginnt in H-Moll (Elend), die Modulationen (klanglicher Spannungsaufbau) in den B-Teilen entsprechen der emotionalen Regung und der Anspannung, am Ende kehrt wieder das Elend in H-Moll zurück.

Harmonik

Der A-Teil verharrt „regungslos“ auf der Tonika (Ruheklang), der inneren Leere entsprechen die leeren Klänge. Die Dominante (Spannungsklang) und eine harmonische Spannung in den Takten 15, 18 und 19 des A1-Teils verdeutlichen eine innere Regung, wobei die Dissonanzen in diesen Takten den Schmerz zum Ausdruck bringen. Die Modulation und die Zwischendominanten (zusätzliche Spannungsklänge) ab Takt 28 und die dadurch erzeugte harmonische Ausdruckssteigerung zeigen die aufbäumende Emotionalität, Wut und Trotz. Die verminderten Klänge in den Takten 24 und 26 weisen auf das Unangenehme der Situation hin. Eine Hervorhebung des Elends wird durch die harmonische Rückung bei den Worten „elend, elend nicht“ erreicht.

Klavierbegleitung

Im Vorspiel deuten die gleichförmigen Achtel-Notenwerte Schritte in einer elenden, trüben Stimmungslage an, die leeren Zweiklänge (ein fehlender Ton würde einen klangvolleren Dreiklang ergeben) stehen für die innere Leere. Ein Fortepiano (fp) lässt das Dahintrotten kurz stocken und einen kurzen inneren Impuls erkennen. Im A-Teil wird weiterhin das träge Wandern in den gleichförmigen Achtelnoten fortgesetzt, das heitere Lüftchen wird durch eine rhythmische Abweichung hervorgehoben. Der A1-Teil verleiht den stärkeren Emotionen durch klangvollere Akkordwechsel Ausdruck. In den B-Teilen lässt das Tremollo (zwei Töne werden sehr rasch im Wechsel wiederholt) die Luft schwirren. Die Dissonanzen (scharfe, etwas „unangenehme“ Klänge) lassen den Schmerz spürbar werden. Die Sechzehntel-Triolen, die kraftvollen Akkorde und die Chromatik (zusätzliche Halbtöne erzeugen Spannung) führen zu einer extremen Ausdruckssteigerung und verdeutlichen den herzzerreisenden Gefühlsausbruch. Das Nachspiel, kraftlos und abwärts gerichtet, lässt uns das dramatische Ende des in diesem Lied dargestellten Individuums erahnen.

Die Musik in ihrer Zeit

Soweit der Beitrag der musikimmanenten Analyse zum Verstehen. Wir erkennen, wie detailliert Schubert den Inhalt der Textvorlage in seiner Komposition verdeutlicht Zum Verständnis der Musik Schuberts benötigen wir nun auch Informationen zum Umfeld des Künstlers. Insbesondere die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ist geprägt zunächst durch die Napoleonischen Kriege und durch den Wiener Kongress 1815, der nach dem Sturz Napoleons Europa neu ordnen sollte, die Ideale der Französischen Revolution jedoch nicht weiterverfolgte, sondern in der darauffolgenden Zeit durch Reaktion und Restauration alte Zustände wiederherzustellen versuchte. Die Karlsbader Beschlüsse 1819, die eine starke Einschränkung politischer Betätigung bedeuteten, unterdrückten die öffentliche Meinungsfreiheit durch Zensur, Berufsverbote drohten und die Denunziation war verbreitet. Schon vor 1830 — mit diesem Datum beginnt die Zeit des Vormärz — entwickelte sich auch eine Gegenbewegung mit liberaler, bürgerlich-demokratischer Gesinnungen, die in der Märzrevolution 1848 zum Widerstand gegen das Bestehende aufrief. Die in der ersten Hälfte der Romantik geborenen oder aufgewachsenen Künstler — Komponisten, Literaten, Maler — gehören zwar alle der Generation nach der Französischen Revolution an, sind jedoch politisch und gesellschaftlich eher desinteressiert, oft rückwärtsgewandt oder verklären die Realität. Die freiheitlichen Ideale werden von wenigen aufgegriffen, eine spießige Konformität mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten und der Rückzug in die innere Gefühlswelt spiegeln sich in so manchen Kunstwerken. Dazu kommen biografische Verläufe, die den Rückzug in das Innere begünstigen. Die Biedermeier-Zeit nach 1815 ist das soziökonomische Umfeld, in dem wir auch Musiker und ihre Musik betrachten müssen. Wir fragen uns, inwieweit sich darin eine unpolitische Spießigkeit oder andererseits freiheitlich-liberale Gesinnung widerspiegelt. Schuberts Lebensumfeld waren der gesellige Freundeskreis junger Künstler und die Salons und privaten Gesellschaften wohlhabender Bürger, die die Künste förderten. In dieser privaten Sphäre dürfte Schubert sicherlich mit sowohl eher reaktionären als auch freiheitlich-demokratischen Ansichten konfrontiert worden sein. Da Schubert weder weite Reisen unternahm noch tiefere Liebesbeziehungen hatte, war seine Lebenserfahrung überschaubar. Schubert selbst schreibt von trüben Stunden und tatenlosem unbedeuteten Leben, das er schmerzlich fühlt. Schubert dürfte mit der Zeit und vor allem seinem eigenen Leben nicht zufrieden gewesen sein. Man kann durchaus sein Lied „Einsamkeit“ als Ausdruck des Gefühlszustandes Schuberts selbst betrachten. Schuberts Musik — insbesondere seine Klavierlieder und kleineren Klavierwerke, die in seinem Lebensumfeld Beachtung fanden — lässt uns die Emotionen eines Künstlers in einer sowohl politisch repressiven Zeit als auch einer privaten nicht erfüllten Lebenslage erfahren. Anders als Mendelssohn Bartholdys „Lieder ohne Worte“, die ausgesprochen spießig für die Klavier spielenden Hausmusiker in den Salons oder bürgerlichen Wohnzimmern gestaltet sind, die die Realität eher verklären und von denen kein Impuls zum Nachdenken über den Zustand der Gesellschaft ausgeht, spiegelt Schuberts „Einsamkeit“ eine individuelle Gefühlswelt wider, die uns auch zum Nachdenken über die gesellschaftliche Situation, die so manchen Künstler in seine innere Gefühlswelt flüchten ließ, anregen kann.

Hörbeispiel (Franz Schubert: Einsamkeit)