Die Gattung Oper, die um 1600 entstanden ist, und die Gattung Oratorium, Mitte des 17. Jahrhunderts entstanden, sind bis heute gebräuchliche Musikgattungen, denen sich Komponisten zuwenden. Insbesondere die Oper begegnet uns in allen Epochen und allen Stilrichtungen. Die Oper und das Oratorium sind gerade auch repräsentative Gattungen barocker Vokalmusik. Die Wirkstätte der Oper ist der weltliche, repräsentative, höfische Raum, die des Oratoriums und der kleineren Form Kantate der kirchliche, religiöse Raum. Stammt der religiöse Inhalt aus der Leidensgeschichte, nennt man die Gattung Passion. Die Inhalte der barocken Opern greifen häufig Geschichten historischer Figuren auf, während das Oratorium auf religiöse Inhalte zurückgreift. Die beiden Gattungen in der Barockzeit behandeln den zu vertonenden Text in ähnlicher Weise. Grundlage der Vertonungsformen ist der Inhalt des Textes.
Eine typische Barockoper ist Julius Cäsar (1724) von Georg Friedrich Händel, ein typisches Beispiel einer Passion ist die Johannes-Passion (1724) von Johann Sebastian Bach. Die beiden Werke werden hier nicht nach ihrem inhaltlichen Verlauf besprochen, wir wenden uns den Formen zu, wie Inhalte in Opern und Oratorien der Barockzeit ab Mitte des 17. Jahrhunderts musikalisch umgesetzt werden und entnehmen aus diesen Werken die folgenden Hörbeispiele.
Rezitativ
Ein Erzähler erzählt einen Textausschnitt einer Geschichte oder eine Person spricht (Monolog oder auch Dialog). Die Handlung entwickelt sich weiter. Die Vertonung orientiert sich am Text, an der Sprachmelodik und der Sprachrhythmik. Bei einem Punkt am Ende eines Satzes wird die Stimme abgesenkt, bei einer Frage wird die Stimme angehoben. Die Musik ahmt die Art und Weise einer guten sprachlichen Wiedergabe eines Textes nach. Die Textverständlichkeit ist auch bei der Vertonung gegeben. Ausgeführt wird das Rezitativ durch Sologesang mit Generalbassbegleitung (eine Orgel, ein Cembalo oder auch die Streicher spielen Akkorde über einer vom Cello oder Kontrabass gespielten Bassstimme). Neben dieser Begleitung des Sologesangs (man nennt dies Rezitativ secco) gibt es auch die Ausschmückung des Textes durch ein Orchester (Rezitativ accompagnato).
Zum folgenden Hörbeispiel:
Cäsar ist bei einer Schlacht in‘s Meer gestürzt und wird für tot gehalten. Er konnte sich jedoch retten und äußert sich: „Aus der Brandung Gefahren rettet‘ ich mich ans Ufer mit starken Armen. Diesmal bin ich entronnen dem grimmigen Tod, der schon mich halten wollte. Matt wie ich bin, was soll ich nun beginnen. Wo sind meine Truppen? Was ward aus den Legionen? Vermag ich ohne euch mich zu behaupten? Einsam ohne Waffen und Mannen!“
Hörbeispiel (aus Julius Cäsar: Dall´ ondoso periglio)
Arie
In der Arie bleibt die Handlung stehen, eine Person (in der Passion auch allgemein der Gläubige) äußert ihre Gefühle. Hier spielt der Gefühlsinhalt des Textes eine Rolle, die Musik gibt das Gefühl wieder. Dabei ist die barocke Affektenlehre interessant, die sich Gedanken macht, wie die Emotionen (Liebe, Trauer, Hass etc.) dargestellt werden können. Die Arie ist melodiebetont, darin sind häufig Koloraturen (man singt eine Silbe auf mehreren Tönen) enthalten. Die Textverständlichkeit ist nicht immer gegeben. Ganze Teile des Textes, einzelne Sätze, einzelne Worte und eben sogar einzelne Silben werden wiederholt. Begleitet wird der Sologesang vom Orchester, in der Regel spielt ein Generalbass mit. Das Orchester hat dabei auch Vor- und Zwischenspiele. Viele Arien haben eine dreiteilige Form (ABA).
Zum folgenden Hörbeispiel:
Cäsar triumphiert nach dem Sieg über die Ägypter: „Jetzo wahrlich, Ägyptens Erde, bau von Palmen ein Siegestor, bau von Palmen, bau von Palmen, bau von Palmen ein Siegestor. Jetzo wahrlich, Ägyptens Erde, bau von Palmen ein Siegestor, bau von Palmen, bau von Palmen, bau von Palmen ein Tor!“
Hörbeispiel (aus Julius Cäsar: Presti omai)
Chor
Im Chor äußert sich das Volk oder im religiösen Zusammenhang die christliche Gemeinde. Der Chor entspricht eher einer Arie. Jedoch ist die Besetzung ein vier-stimmiger Chor (Sopran, Alt, Tenor, Bass) mit Orchester. Es geht um eine Gefühlsäußerung, der Text und die Textverständlichkeit sind der Musik untergeordnet. Wie in der Arie werden Teile, Sätze, Worte oder auch Silben wiederholt (Koloraturgesang). Häufig finden sich polyphone Abschnitte (die Stimmen sind gleichberechtigt und setzen kanonartig ein). Die Form ist meist dreiteilig (ABA).
Zum folgenden Hörbeispiel:
Cäsar hat seinen ägyptischen Gegner besiegt. Das Volk Äpytens begrüßt freudig den römischen Herrscher: „Heil dir! Heil dir! Heil unserem Führer. Freude, Freude, Freude herrsche überall. Jauchze Ägypten ihn zu grüßen! All dein Leiden fand ein End. Jauchze Ägypten! Jauchze Ägypten ihn zugrüßen! All dein Leiden fand ein End.“
Hörbeispiel (aus Julius Cäsar: Viva, viva il nostro Alcide)
Arioso
Das Arioso ist ein Musikstück für Sologesang und Orchester. Es stellt eine Mischung aus Arie und Rezitativ dar. Es ist weniger an der Sprache orientiert und übernimmt von der Arie die Gesanglichkeit. Im Gegensatz zur Arie zeichnet sich das Arioso aber durch eine offenere, freie Formgestaltung aus. Man findet das Arioso häufig zur Darstellung sehr ausdruckvoller Gefühlslagen, kunstvolle Kolleraturen fehlen weitgehend.
Zum folgenden Hörbeispiel
Cornelia singt vor dem Grab ihres erschlagenen Ehemanns: „Quellt o Tränen. Ach nie zu fassen, dass der Holde mir verloren! Quellt o Tränen, quellt o Tränen, dass der Holde mir verloren, dass der Holde mir verloren!“
Hörbeispiel (aus Julius Cäsar: Nel tuo seno)
Choral
Der Choral als Vertonungsform findet sich nur in Oratorien bzw. Passionen. Es singen im übertragenen Sinne die Gläubigen bzw. die christliche Gemeinde. Der Choral strahlt eine religiöse Grundstimmung aus, bedingt durch die Verwendung als Gemeindegesang in der Kirche, dort natürlich einstimmig. Im Oratorium handelt es sich um einen vom Chor vorgetragenen streng homophonen, syllabischen vier-stimmigen Gesang. Das heißt, alle Stimmen singen parallel dasselbe, jeder Silbe ist ein Ton zugeordnet. Klanglich und rhythmisch hören wir eine in Viertelnoten fortschreitende Akkordfolge. In den einzelnen Stimmen werden manche Viertelnoten mir Durchgängen verbunden (zwischen einzelne Viertelnoten werden zwei Achtelnoten eingeschoben, die die beiden Töne verbinden). Der Text ist durch diese Vertonungsweise sehr gut verständlich.
Zum folgenden Hörbeispiel
Die Gläubigen fühlen mit der in der Leidensgeschichte betroffenen Person:
“O große Lieb', o, Lieb' ohn' alle Maße,
Die dich gebracht auf diese Marterstraße!
Ich lebte mit der Welt in Lust und Freuden,
Und du musst leiden!”
Hörbeispiel (aus Johannes-Passion: O große Lieb´)
Nur in der Johannes-Passion finden wir noch eine besondere Vertonungsform, den Turba-Chor. Hier singt das Volk oder Gruppierungen aus dem Volk in kurzen, 4-taktigen Abschnitten. Zum Ausdruck kommen anklagende, aufgeregte Stimmungen. Der Chor singt akkordisch homophon (alle singen in parallelen Stimmen in Akkorden). Es wird syllabisch (jede Silbe ein Ton) mit scharfer rhytmischer Prägnanz gesungen. Die Textverständlichkeit ist gut.
Zum folgenden Höbeispiel
Auf die Frage, wenn suchet ihr, kommt die Antwort: “Jesum, Jesum, Jesum von Nazareth, Jesum von Nazareth, Jesum von Nazareth!
Hörbeispiel (aus Johannes-Passion)
Es bleibt noch hinzuzfügen, dass in beiden Gattungen auch rein instrumentale Musikstücke als Ouvertüren, Vor- und Nachspiele etwa bei Arien oder eigenständige, die Grundstimmung einer Situation verdeutlichende Zwischenspiele im Stile barocker Instrumentalmusik eine Rolle spielen.
Ausdruck von Gefühlen – Die Affektenlehre
Wichtig beim Hören handlungsorientierter, textbezogener Musik ist die Wahrnehmung der unterschiedlichen Stimmungen und Gefühlen der handelnden Personen. In den Chören, insbesondere jedoch in den Arien drücken die einzelnen Personen ihre Gefühle aus. Schon in der Antike machte man sich Gedanken über die Darstellung von Gemütsbewegungen. Im Barock machte sich der Philosoph Descartes darüber Gedanken und leitet die Arten der Gefühle von sechs Grundformen ab: Verwunderung, Liebe, Hass, Verlangen, Freude, Trauer. Fragt man heute einen Musikhörer was den Unterschied in der Darstellung von Freude und Trauer ausmacht, erhält man schnell die Antwort Dur und Moll. In der Tat hat sich bei der Darstellung von Stimmungen in der Musik nicht viel geändert. Dabei können wir auch an das Sprechen denken: Sind wir aufgeregt, reden wir eher schnell in kurzen Phrasen, sind wir betrübt, dann eher ruhig, langsam und in tieferer Stimmlage. An zwei Arien aus der Oper Julius Cäsar wollen wir die musikalische Darstellung unterschiedlicher Stimmungslagen aufzeigen.
Beim ersten Beispiel begegnet uns Cäsar wütend und zornig über die Grausamkeit, dass man ihm, um seine Gunst zu erhalten, den getöteten Ptolemäus überreicht. Die Melodik verläuft in kurzen Phrasen, gleich zu Beginn geht es rasend abwärts, dann pocht sie immer wieder auf einem Ton. Die Rhythmik treibt in kurzen Notenwerten voran und entläd die Wut immer wieder in kurzen rhythmischen Attacken. Auch die Rhythmik der Begleitung ist in aufgeregter Bewegung. Die Tonart steht in düsterem Moll, die Dynamik ist im fortissimo Bereich oder steigert sich. Das Tempo ist rasch. Die Streicher in hellerer Klangfarbe unterstreichen den Zorn, während die Bässe in eher dunkler Klangfarbe wütend brummen.
Hörbeispiel (Julius Cäsar: Empio, diro, tu sei)
Im zweiten Beispiel hören wir Cornelia, die traurig, trostlos den Tod ihres Ehemanns beklagt. Die Melodik verläuft in ruhiger, sehr gesanglicher Bewegung. Die Rhythmik im 3-Achtel-Takt bewegt sich gleichmäßig ruhig. Die Tonart ist – entgegen der Erwartung – D-Dur. Dynamisch verläuft die Arie im piano Bereich mit einigen ausdrucksvollen Crescendi. Das Tempo ist sehr langsam. Zur eher etwas dunkleren Klangfarbe der Streicher tragen die Flöten mit ihren hellen Tönen zu einer zarten Klangfärbung bei.
Hörbeispiel (Julius Cäsar: Priva son d´ogni conforto)
Musikalisch-rhetorische Figuren
Ein Aspekt der Textvertonung im Barock soll noch erwähnt werden. In Anlehnung an die Rhetorik (Lehre vom guten, wirkungsvollen Sprechen) werden musikalische Figuren bei der Vertonung verwendet, die den Text noch wirkungsvoller machen. Hier ein Beispiel aus der Johannes-Passion:
Das aufgeregt schlagende „Mein Herz“ verdeutlichen die mehrmals eingefügten 32tel-Notenwerte, das „Leiden“ wird durch die Folge von einem verminderten zu einem C-Moll-Akkord unterstrichen, „der Vorhang reisst“ mit einer rasch nach unten führenden Figur, „der Fels zerfällt“ mit einer nach unten in kleinen Sprüngen brökelnden Melodie, „die Erde bebt“ mit einer bebenden Tonrepetition, „die Gräber spalten“ sich mit einer rasch aufwärts führenden Melodiefigur.
Hörbeispiel (aus Johannes-Passion)
Die Entwicklung der Oper in der Folgezeit des Barock
Die in der opera seria – so nennt man den barocken Opernstil – fortwährende Abfolge von Rezitativen und Arien wurde dem Publikumsgeschmack aufgrund der immer wiederkehrenden Einheitlichkeit der Opern nicht mehr gerecht. Es entwickeln sich andere Opernstile. Mozart schreibt zwar auch noch einzelne Opern im Stile der opera seria, entwickelt die Vertonungsmöglichkeiten der Operntexte weiter und zeichnet vielfältiger und wesentlich präziser die Stimmungslagen der handelnden Personen und Situationen nach. Noch weiter verfeinert wird die Vertonung von Operntexten (Libretti) in durchkomponierten Opern der Romantik.